Das Atomium - über die Wichtigkeit des Selbstwertes

 

 

Atomium: Symbol der Brüsseler Weltausstellung von 1958, ein 110 m hohes Bauwerk in Form einer 150milliardenfachen Vergrößerung der Elementarzelle eines α-Eisenkristalls (Der Brockhaus, 2004).

 

 

Viele Dinge im Leben sind klar. Ich weiß sie, manche schon immer, manche habe ich mir angelesen, manche erzählt oder erklärt bekommen. Aber es ist eine ganz andere Sache, diese Dinge zu erfahren, zu sehen, zu erleben, mittendrin zu stecken. Erst dann passiert es: das, was man weiß, auch zu verstehen.

 

Einer meiner lebenslange Kämpfe, bedingt durch das Nicht-Wissen und erst recht Nicht-Verstehen, ist der Kampf mit meinem Selbstwertgefühl. Gefördert durch die spezielle Geschichte des Elternhauses und genährt von den gesellschaftlichen Erwartungen hielt ich nie viel von mir. Ich wusste um die eine oder andere Begabung, war (fast immer) fleißig und ehrgeizig, und versuchte, ein guter Mensch zu sein. Aber niemals war es mir möglich, die eigenen Anstrengungen zu schätzen. Rational betrachtet wusste ich schon, dass ich „nicht schlecht“ bin, doch das Gefühl zu mir selbst war nicht gut.

 

Liebe Andere wie Dich selbst“ oder ähnliche Redewendungen haben in mir nur befremdliche Empfindungen ausgelöst. Andere konnte ich lieben, aber mich? Wie soll das gehen? Und warum eigentlich sollte das überhaupt von Wichtigkeit sein? Seit ich denken kann, liebte ich die Natur und ihre Wesen, Pflanzen und besonders die Tiere. Und manche Menschen natürlich, wenn auch nur wenige. Doch über nichts und Niemanden habe ich jemals so schwere, ja brutale Urteile gefällt wie über mich selbst. Fehler waren nicht nur schlecht, sie waren unverzeihlich, üble Gedanken kamen auf die Liste der nicht wieder gut zu machenden Dinge, das Ziel ein edler Mensch zu sein, die Vorstellung vom vollkommen guten Wesen war unerreichbar.

 

Dass diese Art zu denken und zu fühlen nicht nur mich selbst entwertet, sondern ein Loch in die Vollkommenheit der Schöpfung reißt, war mir nicht klar. Ich wusste es einfach nicht.

 

Eines Tages sollte ich dies erleben, um verstehen zu können.

 

Seit ein paar Jahren schon mache ich das, was allgemeinhin Psychotherapie genannt wird, um mir selbst auf die Spur zu kommen. Ich möchte die Anstrengungen lieber als innere Arbeit bezeichnen (auch wenn ich mich unter all den anderen Menschen oft als „Psycho“ gefühlt habe …). Als großes Glück empfinde ich die Hilfe zweier Menschen, meiner Therapeutinnen, die mir mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung beim Verstehen auf die Sprünge helfen und Türen öffnen helfen, die ich alleine nie gefunden hätte.

Seit einem massiven Erschöpfungszustand , der vor zwei Jahren allzu deutlich wurde, kam ein inneres Erforschen hinzu.

 

In einer solchen Arbeit erlebte ich Folgendes:

Der Einstieg begann mit dem Klären des Themas. Danach richtete sich meine Aufmerksamkeit auf eine Person aus der Familie, zwei Generationen zuvor. Sie lebt nicht mehr, und ich muss sagen, dass mein Verhältnis zu ihr nicht gut war, ich mochte sie nie. Komischerweise konnte ich meine Ablehnung nie so recht begründen, denn wir hatten eigentlich nur wenig oder meistens gar nichts miteinander zu tun. Als ich mir vorstellte, wie es ihr ging, als sie noch lebte, erfuhr ich Empfindungen wie Freudlosigkeit und Resignation; es waren keine Sehnsüchte da, nichts, wonach es sie verlangte, keine Sehnsucht nach dem Leben selbst. Ich versuchte, Mitleid mit ihr zu empfinden, doch stärker war der Zorn. Der Zorn darauf, dass sie diese Gefühle gelebt und an ihre Kinder weitergegeben hat. Die Gedanken und Gefühle, die sie hatte, erschienen mir wie Bänder, feste, starke Bänder zu meinem Elternteil, den Onkels und Tanten – und darüber hinaus, zu den Neffen und Nichten und zu mir!

 

Als ich diese Bänder sah, verstand ich zum ersten Mal, welche Auswirkung unsere Gedanken und Empfindungen – meine Gedanken und Empfindungen - haben; wie tatsächlich und weitreichend das wirkt, was in mir vorgeht und wie sehr ich andere Menschen damit beeinflusse. Dieses Bild trage ich seitdem mit mir, und ich erinnere mich immer wieder daran. Nicht nur bei schlechten Gedanken, sondern ganz besonders auch bei den guten und schönen.

 

In der Therapie habe ich dann darum gebeten, dass diese negativen Energien verwandelt werden sollen. Daraufhin sah ich, wie helles Licht seine Arbeit tat, um die Bänder aufzulösen. Ich habe selbst nichts dazu getan, ich ließ von dem Gedanken ab, etwas tun zu müssen, ließ „es“ tun - mit Dankbarkeit und Freude, dass ich mich von diesen Kräften, den schlechten Einflüssen, verabschieden kann und darf.

 

Da tauchte das Thema „Achtung“ auf. Ich fragte mich, ob es um die Achtung vor der Person geht, die ich ja immer verachtet habe. Doch nein, es ging um die Achtung vor mir selbst. Da fühlte es sich auf einmal an, als ob mein Körper sich mit einer Substanz füllt. Von den Füssen bis zum Haupt füllte er sich mit silbernfarbener Achtungs-Substanz. Das klingt sehr seltsam, doch so habe ich es empfunden. Als ich ganz ausgefüllt war, strahlte das Silber und dehnte sich zu einer Ei-Form um mich herum aus. Ich sah mich darin und gleichzeitig in einem unendlich weiten Gebilde, dem Atomium gleich als ein „Ei“ von vielen. Alle waren miteinander und untereinander verbunden und alle wiederum mit einer zentralen Kraft, die nicht die Form eines Eies sondern einer Kugel hatte, viel größer als die Eier.

Jedes „Ei“, also jeder Mensch, hat hier seinen festen Platz. Und doch waren in dem Atomium Löcher – oder besser gesagt, viele der Eier strahlten nicht, sie waren dunkel und hohl.

Ich sehe sie auch heute immer wieder deutlich vor mir. Sie sind dunkel, weil dort Menschen sind wie ich, die glauben, sie seien unwichtig, ohne Aufgabe, es sei egal, was sie tun oder nicht tun, sogar ob sie leben oder nicht. Die keine Achtung vor sich selbst haben, die um ihren Wert an sich und für das Ganze nicht wissen.

 

Doch für die Vollkommenheit des Ganzen, das wir nur alle zusammen sein können, müssen wir strahlen. Das ist unsere ureigenste Aufgabe. Jeder Einzelne von uns ist immens wichtig, kein Platz kann von einem Anderen belegt oder übernommen werden, es geht einfach nicht. Erst wenn alle „Eier“ silbern strahlen, ist das Ganze vollkommen, sind wir ganz.

 

Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich damals wirklich Achtung vor mir selbst, erkannte ich meine Wichtigkeit, ohne jegliche Überheblichkeit und frei von allen Definitionen wie Fleiß, Schönheit oder berufliche Position. Wichtig bin ich, ist Jeder von uns, einfach weil er es ist.

 

Ich bekam zu diesem Erlebten jedoch noch eine Aufgabe. Ich darf mich nicht Ausruhen auf diesem Verständnis, darf es nicht für mich behalten. Die Aufgabe heißt, es weiter zu sagen. Denen, die ihre Wichtigkeit, ihren Selbstwert nicht schätzen, muss und möchte ich sagen, dass sie strahlen sollen. Nicht nur für sich sondern auch für alle anderen Menschen, für das Ganze, das Eine, das wir Alle zusammen sind.

 

Das fällt mir nicht leicht. Das Erlebte klingt ungewöhnlich und noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ich selbst mit derartigen Schilderungen Schwierigkeiten gehabt. Weil ich selbst solche Dinge eben nicht erlebt habe. So kostete es mich auch rechte Überwindung, meinen Namen unter diesen Bericht zu setzen. Aber ich schließe mich da Viktor E. Frankl („… trotzdem Ja zum Leben sagen“) an, der „sich davon überzeugen ließ , dass eine anonyme Veröffentlichung insofern entwertet würde, als der Mut zum Bekenntnis den Wert einer Erkenntnis erhöht“.

 

So hoffe ich und wünsche ich mir, dass meine Zeilen den Einen oder Anderen ermutigen, ungewöhnliche Wege zu gehen, um sich Selbst erleben und verstehen zu können.

 

Ich habe damals auch das Bild des vollkommenen Atomiums gesehen. Alle „Eier“ haben hell silbern gestrahlt, waren Eines, waren ganz.

 

Sandra Ties